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III.10. Das Sein in Christus

Paulus glaubte sich berechtigt, hochgespannte Erwartungen zu hegen. Man könnte ihn mit einem Gefangenen vergleichen, der von höchster Stelle begna­digt wurde, dessen Begnadigung aber erst an einem besonderen Festtag in Kraft treten und damit zum Ende seiner Haft führen wird. Er trägt zwar noch die Kleidung eines Gefangenen und ist der Gefängnisordnung unterworfen, darf sich aber dank der rechtskräftigen Begnadigung schon in einer neuen Existenz wissen, vor der die graue Wirklichkeit bedeutungslos wird.

Paulus sah das nahe Ende dieser Weltzeit gekommen und erwartete sehnsüch­tig den hohen Festtag, an dem die Knechtschaft in der Bindung an die sündhafte Leiblichkeit aufgehoben würde:

"Wir wissen ja, wenn diese unsere irdische Leibeshütte abgebrochen wird, so erhalten wir eine neue Behausung von Gott, ein ewiges Haus, nicht von Men­schenhänden gemacht, im Himmel, und wir sehnen uns mit Seufzen danach, dies, unser himmlisches Kleid über das irdische darüber zu ziehen. Brauchten wir dann doch keinen Augenblick bloß und ohne Kleid dazustehen. Denn solange wir den irdischen Leib tragen, stehen wir unter einem Druck und müssen seuf­zen, weil wir unser irdisches Kleid lieber nicht erst ausziehen, sondern gleich das himmlische darüber anziehen möchten, so dass das Sterbliche an uns vom Leben verschlungen würde" (2. Korinther 5, 1 ff.).

Die Hoffnung auf den Jüngsten Tag, an dem die Welt gerichtet und die Ge­meinde Christi verherrlicht werden sollte, teilte er zwar mit der Urgemeinde in Jerusalem. Aber bei ihm fand sie eine seinem Wesen entsprechende Ausprä­gung, und das sollte dazu beitragen, ihn in einen unversöhnlichen Gegensatz zu den Aposteln in Jerusalem zu bringen.

Albert Schweitzer hat darauf hingewiesen, dass man sich in der Urgemeinde als natürlicher Mensch mit dem bereits zum Himmel erhöhten Christus dadurch verbunden fühlte, dass man an seine Messianität glaubte und nach Vereinigung mit ihm in messianischer Herrlichkeit ausschauen durfte. Dies war allen Gläubigen der ersten Christenheit selbstverständlich außer Pau­lus. Für Paulus hat die Seinsweise der Auferstehung bereits begonnen. Er hat an dieser Seinsweise teit indem er bereits in seiner leiblichen Existenz mit Chri­stus starb und nun in besonderer Weise der Wirkung von Auferstehungskräf­ten ausgesetzt ist:

"Wißt ihr nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, auf seinen Tod getauft und damit zugleich in diesen Tod hineinversenkt sind? So wurde der Tod Christi das Grab, in dem wir bei der Taufe mit Christus begraben wur­den. Aber ebenso, wie Christus nicht im Grabe geblieben ist, sondern durch die Majestät des Vaters auferweckt wurde, so sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln" (Römer 6, 3ff.).

Der zum Heil Bestimmte erlangt also gleichsam verfrüht die Seinsweise der Auf­erstehung. Kennzeichnend für die Verbundenheit mit Christus ist das Sterben mit ihm, das sich in stetem Leiden vollzieht:

"Wir sind ... Miterben, wenn wir mitleiden, dass wir auch mit verherrlicht wer­den" (Römer 8, 17).

Nur diese Existenz in neuer Leiblichkeit ist wirklich, auch wenn der Schein der natürlichen Existenz noch besteht und gewahrt bleibt. Der von Christus Er­wählte ist also nicht mehr ein natürlicher Mensch, sondern wie Christus selber bereits ein übernatürliches Wesen, nur dass es an ihm noch nicht offenbar' ge­worden ist[31].

Wir stehen hier also vor der seltsamen Tatsache, dass ein Mensch unter dem Druck unlösbarer Probleme die Schöpfungsordnung für aufgelöst erklärt, da nach seinem Glauben die messianische Zeit schon angebrochen ist. Auf diese Weise konnte er eine für ihn selber widerspruchsvolle Situation meistern. Es verstand sich für ihn von selbst, diesen Glauben als allgemeinverbindlich hin­zustellen. Selbstbewusst war er fest davon überzeugt, vor allen Aposteln in inni­ger Verbundenheit mit dem Herrn die neue Schöpfung zu verkörpern. Andererseits aber war er in seinem Selbstvertrauen zu labil, als dass er auf eine allgemeine Anerkennung seiner Anschauungen hätte verzichten können. Wenn er die Christen dazu bewegen konnte, ihn zum Vorbild zu nehmen, dann war aus dem unglückseligen Menschen der Erste geworden, der unvergleichlich höher stand, als alle die anderen, die noch an die alte kreatürliche Ordnung gebunden blieben. Das neue "Sein in Christus" hätte damit in der Wirklichkeit die ersehnte Anerkennung und Bestätigung gefunden.

Nun hätte es allerdings seltsam zugehen müssen, wenn man sich diese An­schauungen des Paulus ohne weiteres zu eigen gemacht hätte. Das war unmög­lich, da man gemeinhin noch völlig unbefangen in den alten kreatürlichen Ord­nungen lebte.

Hier aber sollte sich zeigen, dass Paulus zwar, wie es im folgenden noch nachzu­weisen ist, wahnhaften Ideen verfiel, aber trotzdem den Kontakt mit der Wirk­lichkeit nicht verlor. Der Gefahr einer paranoischen Erkrankung ist er nicht erlegen. Das Spannungsverhältnis zur Umwelt blieb erhalten, und daher war er auch in der Lage, auf andere Menschen Einfluss zu gewinnen.

So rechnete er in nüchterner Beurteilung gegebener Verhältnisse mit der Auto­rität der Apostel in Jerusalem, deren Berufung in vernünftiger Einsicht nicht in Frage gestellt werden konnte. Ebenso hat er sich davor gehütet, die Menschen zu überfordern, und respektierte daher die noch bestehenden Bindungen der menschlichen Gesellschaft.

Albert Schweitzer weist darauf hin, dass Paulus den Christen geboten hat, in dem weltlichen Stande zu bleiben, in dem sie sich bei Annahme der Taufe befan­den. Wurde jemand als Sklave gläubig, so soll er nach der Theorie des Status quo die Freiheit nicht nehmen, auch wenn sie ihm angeboten wird (1. Korinther 7,21-22), wurde er als ein Verheirateter gläubig, so sollte er nicht in einem be­sonderen Heiligkeitsstreben seine Ehe auflösen (1. Korinther 7, 3-5 und 10-11). Diese Theorie, sagt Schweitzer, ist durch die Mystik des "Seins in Christus" gefordert. Von dem Augenblick an, wo jemand in Christus ist, ist seine We­senheit hierdurch völlig bestimmt. Seine natürliche Seinsweise und alle mit ihr gegebenen Umstände sind bedeutungslos geworden. Er ist wie ein auf Abbruch verkauftes Haus, an dem alle Reparaturen sinnlos geworden sind. Nimmt er dennoch Änderungen an seiner natürlichen Seinsweise vor, so missachtet er die Tatsache, dass seine Seinsweise hinfort durch das "Sein in Christus" bestimmt sein sollte.

"Der Kontrakt über das verkaufte Haus besagt, dass es nur zwecks Abbruch überlassen wurde und also nichts unternommen werden darf, um es bewohnbar zu erhalten oder gar wohnlicher zu machen." [32]

Mit dieser Theorie des Status quo hat Paulus in geschickter Weise seine Lehre vom "Sein in Christus" der noch bestehenden Wirklichkeit angepasst. Die zu ziehenden Folgerungen konnten ihm innerhalb der ersten Gemeinden den ersten Platz geben, vorausgesetzt, dass man sich seiner Lehre anschloss.

Denn aus ihr musste sich eine hierarchische Ordnung entwickeln, an deren Spitze nur der stehen konnte, der das "Sein in Christus" am vollkommensten verkörperte. Das Verhaftetsein an die Ordnungen der alten Weltzeit schließt zwar ein "sein in Christus" nicht aus, gilt aber als ein Zeichen der Unvollkom­menheit und minderen Begnadung durch Gott. Starke Bindungen an die Dinge dieser Welt sind abträglich. So sollen die, die eine Frau haben, sich so halten, als hätten sie keine (1. Korinther 7, 29). Den ehelichen Verkehr gestattet er, aber es ist ein Zugeständnis an die Schwäche der menschlichen Natur (1. Korin­ther 7, 6).

Das Ziel ist, alle schöpfungsmäßigen Bindungen soweit als möglich zu lösen und einer vollkommenen Existenz in Christus zuzustreben, die sich in ihm, Paulus, am sichtbarsten offenbart. In großer Selbstverständlichkeit kann er den Korinthern seine Person als einen vollkommenen Christen empfehlen, indem er sagt:

"Am liebsten hätte ich es ja, wenn alle Menschen ebenso wären, wie ich bin" (1. Korinther 7, 7).

Es ist anzunehmen, dass Paulus vielen Christen, denen er persönlich begegnete, Vorbild war, da er die von ihm verkündigte neue Seinsweise in Christus auch zu verkörpern schien. Eifer und Leidensbereitschaft für die Sache Christi konn­ten stark beeindrucken, da man die Kräfte, die ihn zum Eiferer werden ließen, in ihrer eigentlichen Natur gemeinhin nicht erkennen konnte.

Aber die Kritik schärferer Beobachter blieb nicht aus, wie es im vorhergehenden schon aufgezeigt worden ist. Man durchschaute seine Ich-Bezogenheit sehr klar. Außerdem musste im Laufe der Zeit eine Schwierigkeit für Paulus immer stär­ker in den Vordergrund treten.

Die Christen nämlich, die den Anweisungen des Paulus gemäß in der Erwar­tung eines baldigen Endes dieser Weltzeit lebten, empfanden die Verzögerung der Wiederkunft Christi in einer zunehmenden Bedrückung.

Man kann von einem gesund empfindenden Menschen nun einmal nicht erwar­ten, dass er in beharrlicher WeItabgewandtheit so täte, als wäre die Welt bereits vergangen. Die größten Schwierigkeiten aber sollten ihm daraus erwachsen, dass er sich durch die Ablehnung des Gesetzes die erbitterte Feindschaft der Ur­gemeinde in Jerusalem und ihrer Apostel zuzog.

Man kann es den Briefen des Paulus deutlich entnehmen, wie seine Gegner ihm zunehmend Schwierigkeiten machen und bei seinen Anhängern die Unruhe wächst.

Er war daher gezwungen, seine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, die Freiheit vom Gesetz zu verteidigen und die wachsenden Zweifel seiner Anhän­ger zu zerstreuen, indem er die neue Existenz in Christus zu rechtfertigen ver­suchte.

31 A. Sdtweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, S. 110 f.

32 a.a.0., 5.191.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint