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III.11. Die Rechtfertigung der neuen Existenz

Paulus konnte sich in der neuen Existenz, die sein Glaube ihm ermöglichte, nur behaupten, wenn er von vornherein jeden Zweifel an der Wahrheit seiner Lehre als ein Werk des Satans abtat.

So waren alle, die ihm irgendwie kritisch gegenüberstanden, Werkzeuge des Satans, die Apostel nicht ausgenommen. Seine Angriffe sind von einer erstaunlichen Maßlosigkeit, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Verteidigung den Korinthern gegenüber:

"...ich werde es wie bisher auch weiter so halten" (nämlich mich mit allen Kräften wehren, dass mir der Ruhm in den Gemeinden Griechenlands genommen wird), "um meinen Gegnern die gewünschte Möglichkeit abzuschneiden, sich mir gleichzustellen. Sie müssten es ja sonst ebenso halten, wie wir. Doch das sind ja alles Lügenapostel, Betrüger, die in ihrer Arbeit selbstsüchtige Zwecke ver­folgen und sich dabei fälschlich für Christi Apostel ausgeben.

Das ist freilich kein Wunder. Gibt sich doch der Satan selbst für einen Engel des Lichtes aus. So ist es nichts Besonderes, wenn sich auch seine Diener als Diener der Gerechtigkeit ausgeben. Sie werden ihr Ende finden, wie es ihre Taten verdienen (2. Korinther 11, 12ff.)."

Albert Schweitzer bemerkt zu dieser Stelle: "In der Stelle 2. Korinther 11, 13-15, nennt Paulus die Apostel in Jerusalem nicht direkt. Aber er kann auch hier keine anderen meinen, als die, die ,übermäßig Apostel sind' (2. Korinther 11, 5). Mit diesen hat er es in den letzten Kapiteln des 2. Korinther-Briefes zu tun." [33]

In diesen Worten äußert sich nicht eine momentane Verärgerung, so dass man annehmen könnte, so schlimm habe er es im Grunde gar nicht gemeint. Er stand unter dem Zwang, die Apostel, deren Würde als Nachfolger Jesu er sonst nicht anzutasten wagte, als Satansdiener zu bezeichnen, sofern sie die Wahrheit seiner Lehre in Zweifel zogen.

Denn gab er auch nur ein Stück seiner der urkirchlichen Tradition widersprechenden Lehre preis, so hätte er das mit dem Zusammenbruch nicht nur seiner "christlichen Existenz", sondern auch seiner Persönlichkeit bezahlen müssen. Hätte er sich z.B. überzeugen lassen, dass die messianische Zeit noch nicht so Wirklichkeit geworden war, wie er es glaubte, dann wäre er gezwungen gewe­sen, den kreatürlichen Kräften der alten und, wie er meinte, vergehenden Welt­ordnung in der christlichen Existenz Raum zu geben. Damit hätte er vor den alten Problemen gestanden, die er für sich selber infolge seines Schicksals nicht lösen konnte. Er musste daher an dem Glauben festhalten, die messianische Zeit sei schon gekommen.

Aber Zweifel an dem Offenbarwerden der so sehnlich erwarteten messianischen Herrlichkeit als ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis konnten nicht ausblei­ben, nachdem sich die Wiederkunft des Herrn von Jahr zu Jahr verzögerte. Selbstverständlich hat er diesen Zweifeln niemals einen direkten Ausdruck gegeben, aber sie stehen zwischen den Zeilen, wenn er den Korinthern gesteht, dass er bedrückt und seufzend darauf wartet, mit Leben überkleidet zu werden, ohne sterben zu müssen (2. Korinther 5, 4ff.).

Diesen inneren Schwierigkeiten versuchte er durch Steigerungen seines Selbst­bewusstseins zu begegnen. In ständigem Leiden, das er als ein Sterben mit Chri­stus verstand, sucht er sich seinem Herrn gleichzugestalten (Römer 6, 5). Er, der "tagtäglich auf den Tod gefasst sein muss" (1. Korinther 15, 31), trägt "die Malzeichen des Herrn Jesus an seinem Leibe" (Galater 6, 17). Es besteht, wie er wiederholt durchblicken lässt, kein wesentlicher Unterschied zwischen Chri­stus und ihm. Aus diesem Selbstverständnis kann er den Korinthern emp­fehlen:

"Nehmt mich zum Vorbild, gleichwie ich mich nach dem Vorbilde Christi richte" (1. Korinther 11, 1).

Seinen Geist glaubt er nicht mehr an die irdische Existenz gebunden, er kann ihn von Ephesus nach Korinth entsenden, um dort im Verein mit der Kraft Christi ein Strafwunder an einem Unzüchtigen zu vollziehen:

"Ich, abwesend im Leibe, aber anwesend im Geist, habe bereits als anwesend das Urteil gefällt, dass der, der solches verbrochen hat, nachdem ihr euch im Namen des Herrn Jesu versammelt habt und mein Geist mit euch, mit der Kraft unseres Herrn Jesu: dass dieser Mann dem Satan übergeben werde, zum Ver­derben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn Jesu" (1. Korinther 5, 3f.).

Infolge dieser metaphysischen Verbundenheit mit seinem Herrn stehen ihm auch Worte Christi zur Verfügung, so in einer schwierigen Situation, in der sein Ansehen bei den Thessalonichern auf dem Spiele stand.

Er hatte den Thessalonichern anscheinend noch versichert, dass die in den Chri­sten wirkenden Auferstehungskräfte ein Sterben verhindern und am Tage des Herrn· zu einer Verwandlung in die offenbare neue Existenz führen würden (1. Korinther 15, 51). Da sich aber in Thessalonich anscheinend die Todesfälle gehäuft hatten, glaubte er, ihnen ein Wort des Herrn sagen zu können, dass die beunruhigten Gemüter trösten konnte. Er teilte ihnen daher folgendes als ein Wort des Herrn mit:

"Wir, die wir leben und überbleiben zur Ankunft des Herrn, werden nichts vor den Entschlafenen voraushaben. Er, der Herr, wird vom Himmel herniederkom­men, sowie der Ruf laut wird und die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen. Und es werden zuerst auferstehen die Toten in Christo; hier­auf werden wir, die wir überlebend sind, mit ihnen in den Wolken entrückt wer­den dem Herrn entgegen in die Luft. Und hinfort werden wir bei dem Herrn sein allezeit. So schöpft nun aus diesen Worten Zuspruch füreinander (1. Thessalo­nicher 4, 15ff.)."

Wir können die Überzeugung des Paulus an der Echtheit des Herrenwortes nicht in Frage stellen, er wird vermutlich mit großem Ernst darum gebeten haben. Aber es besteht doch wohl kein Zweifel, dass dieses Wort nur aus der Sehn­sucht nach der baldigen Erfüllung messianischer Herrlichkeit entstand. Ein krankheitsbedingtes Realitätsbewusstsein macht hier seinen Anspruch auf ob­jektive Realität geltend.

Die neue Existenz in Christus war dem Paulus eine so ausschließliche Wirklich­keit geworden, dass alle noch bestehende, aber gleichsam im Umschmelzungspro­zess sich befindliche Realität von diesem Sein in Christus umgestaltet und auf­gesogen werden musste.

So kann schon jetzt ganz neue Wirklichkeit gesetzt werden, die auf logische Zu­sammenhänge oder geschichtliche Vergangenheit keine Rücksicht mehr zu neh­men braucht.

Deutlich tritt dieser Zerfall mit der Wirklichkeit auch in dem Kampf um die Freiheit vom jüdischen Gesetz zutage.

Da ohne die Freiheit vom Gesetz seine Existenz in Christus unmöglich gewor­den wäre, musste er einen Kampf sowohl gegen den Wortlaut des Alten Testa­mentes als auch gegen die Autorität der Urgemeinde in Jerusalem führen.

Die Propheten des Alten Bundes und, nach dem Zeugnis des Matthäus-Evange­liums (Matthäus 5, 18), auch Jesus selber, behaupteten die Gültigkeit des Gesetzes bis an das Ende der Tage. Nach dem Verständnis der Jerusalemer Ur­gemeinde hatten sich auch Menschen aus dem Heidentum dem mosaischen Ge­setz voll zu unterwerfen, wenn sie dem Volke Gottes angehören wollten.

In dieser Lage hat nun Paulus mit dem Mute der Verzweiflung, oder anders gesagt, mit einem alle Logik sprengenden Selbstbewusstsein das Zeugnis des Alten Testamentes für sich in Anspruch genommen. Eindeutige Aussagen wer­den kraft der Seinsweise in Christus umgestaltet und erhalten einen neuen Sinn. Zwei Schriftstellen im Alten Testament glaubte Paulus für sich in Anspruch neh­men zu können, und zwar 1. Mose 15, 6 und Habakuk 2, 4. Diese Schriftstellen gaben seiner Ansicht nach die allein gültige Meinung der Schrift wieder, so dass er mit ihnen alle gegensätzlichen Aussagen außer Kraft setzen konnte. Beide Stellen aber wurden ihres ursprünglichen Sinnes entkleidet.

In 1. Mose 15, 6 heißt es: "Abraham glaubte Gott, und das rechnete ihm dieser als Gerechtigkeit an."

Auf dieses Wort gründete Paulus den Nachweis, dass am Anfang der Geschichte des Volkes Israel nicht die Gesetzesfrömmigkeit, sondern der Glaube von Gott anerkannt wurde (Galater 3, 6 und Römer 4, 4). Auf Grund seiner Glaubens­gerechtigkeit wurde dem Abraham die Verheißung gegeben, dass durch seinen Samen, d. h. seine Nachkommenschaft, alle Völker der Erde gesegnet werden sollten (1. Mose 22, 18). Da nun aber die Nachkommen Abrahams während ihrer Wüstenwanderung am Sinai dem Gesetz verpflichtet wurden, waren von da ab die Verheißungen Gottes an das Gesetz gebunden.

Den Anschauungen des Paulus aber widersprach eine solche Gebundenheit an das Gesetz, und es galt, sie durch einen Schriftbeweis zu bestreiten. Er hilft sich, indem er einfach behauptet:

"Nun aber sind die göttlichen Verheißungen dem Abraham und seinem Samen gegeben. Es heißt nicht: ,und den Samen' in der Mehrzahl, sondern mit Bezug auf einen einzelnen: ,und deinem Samen', und das ist Christus" (Galater 3, 16).

Unbekümmert streicht Paulus die ursprüngliche und philologisch einzig mög­liche Bedeutung: Same–Nachkommenschaft durch und kann so die Zeit der Ge­setzesknechtschaft überspringen. Durch eine unmittelbare Verbindung Abra­ham–Christus glaubt er nachgewiesen zu haben, dass die Verheißungen Gottes nichts mit dem Gesetz zu schaffen haben.

Auch dem Habakukwort legt er einen anderen Sinn unter, indem er es mit den Worten wiedergibt:

"Der aus Glauben Gerechte wird leben" (Galater 3, 11 und Römer I, 17). Der hebräische Text dagegen lautet in der wörtlichen Übersetzung: "Der Gerechte wird durch seine Treue leben" (Habakuk 2, 4), wobei nichts dar­auf hindeutet, dass hier von einer Treue ohne das Gesetz die Rede sein sollte. Da die Beweisführung des Paulus nun von vornherein sachlich nicht stichhaltig war, musste er in dem Versuch, einen lückenlosen Schriftbeweis zu erbringen, zusehends in unwegsames Gelände kommen. Es war jetzt die Frage zu beant­worten, warum denn den Nachkommen Abrahams überhaupt das Gesetz gege­ben und als heilsnotwendig hingestellt wurde.

Paulus behauptet nun, es sei wegen der Übertretungen der Verheißung hinzu­gefügt worden, und zwar nur für eine Zwischenzeit, bis der Same käme, auf den sich die Verheißung bezieht (Galater 3, 19).

Hier aber kann er sich nicht auf die Schrift stützen, im Gegenteil, er muss mit dem Einwand rechnen, dass es dem Wesen Gottes nicht angemessen sein kann, Zwischenlösungen zu schaffen. In dem Bemühen, die Ehre Gottes zu wahren, zieht er sich auf die rabbinische Schriftauslegung seiner Zeit zurück und behauptet, nicht Gott, sondern die Engel hätten dem Mose das Gesetz auf dem Berge Sinai übergeben. In einer rabbulistischen Beweisführung versucht er das deutlich zu machen:

Da Mose, so behauptet er, als Mittler aufgetreten sei, könne als erwiesen ange­sehen werden, dass nicht Gott, sondern die Engel die Gesetzgeber gewesen seien. Gott als ein einzelner hätte keines Mittlers (Mose) bedurft, um dem Volk das Gesetz zu geben. Die Engel aber wären auf einen Mittler angewiesen gewesen, da sie ja in einer Mehrzahl in Erscheinung getreten wären (Galater 3, 19 ff.).

Es liegt eine seltsame Ironie über dem Versuch des Paulus, den Nachweis für die Gesetzesfreiheit in der christlichen Existenz zu erbringen, wenn er abschließend die Bedeutung der Söhne Abrahams, Ismaels und Isaaks, für die Geschichte des Glaubens allegorisch ausdeutet und dadurch ungewollt die ganze Beweisführung ins Gegenteil verkehrt (Galater 4, 22ff.).

Er bezeichnet nämlich Ismael, den Sohn der Sklavin Hagar, als den Prototyp des Menschen unter dem Gesetz, indem er völlig unzutreffend behauptet, Hagar sei das arabische Wort für Sinai und entspräche dem irdischen Jerusalem. Isaak dagegen könne als Stammvater der Menschen gelten, die durch das "Sein in Christus" zum oberen Jerusalem gehörten und in Wahrheit Kinder der Verhei­ßung wären, da Isaak ja von der freigeborenen Sara abstamme (Galater 4, 22 ff.). Obwohl Paulus nun frei und willkürlich eine Geschichte des Alten Testamentes in seinem Sinne auslegt, um die Freiheit vom Gesetz als eine schon im Alten Testament enthaltene göttliche Verheißung hinstellen zu können, läuft sein Nachweis gerade auf das Gegenteil hinaus. Denn nicht die Nachkommen Ismaels, sondern Isaaks geraten am Sinai unter die Knechtschaft des Gesetzes, so dass bei einer Bezugnahme auf diese Geschichte folgerichtig nur Ismael als der Prototyp des gesetzesfreien Menschen hätte hingestellt werden können. Auch wenn man berücksichtigt, dass Paulus als einem von Haus aus jüdischen Theologen eine gewisse Spitzfindigkeit seiner theologischen Argumentation ver­ständlicherweise erhalten bleiben musste, wird man nicht umhin können, die Art seiner Schriftauslegung zum mindesten als etwas seltsam zu empfinden. Man hat den Eindruck, zwingende Wunschvorstellungen haben dazu beigetragen, dass Paulus mit einer solchen Selbstverständlichkeit eindeutig klaren Schriftstel­len einen völlig neuen Sinngehalt unterlegen konnte.

33 a. a. 0., s. 156.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint