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III.3. Das Problem und die mögliche Lösung

Es ergibt sich nunmehr ein scheinbar unlösbares Problem: Einerseits wird es kaum möglich sein, an der Beurteilung des Paulus durch seine Gegner einfach vorbeizugehen, als habe sie überhaupt kein Gewicht. Paulus selbst hat den Stim­men der Gegner durch seine leidenschaftliche Verteidigung bedeutendes Gewicht gegeben. Andererseits aber steht dieser Kritik eine geschichtliche Leistung gegenüber, die nur eine kraftvolle Persönlichkeit vollbringen konnte.

War Paulus wirklich ein so zwiespältiger Mann? Im Blick auf seine Lebenslei­stung wird man das kaum verstehen können, da ja die von ihm geglaubte und vertretene Lehre auch in einer Weise von ihm gelebt wurde, wie es wohl kaum jemals bei einem Menschen der Fall gewesen sein mag. Die Hingabe an die Auf­gabe, zu der er sich berufen glaubte, ist beispiellos. Es liegt etwas nahezu Über­menschliches in dem Willen, unter ständigem Leidensdruck das Evangelium der Menschheit zu verkünden. Auf Eigenleben und ein Glück im menschlichen Sinne verzichtete er, und er berichtet durchaus glaubhaft von den Beschwernissen, die er als Missionar auf sich nehmen musste (2. Korinther 11, 23). So ist es ver­ständlich, dass ihm sein unermüdlicher Eifer in seinen Gemeinden auch ein gro­ßes Maß an Autorität verschaffte.

Die einfachste Lösung wäre nun, man würde die geschichtliche Leistung des Pau­lus als indirekten Beweis für die Größe und Unanfechtbarkeit seiner Person hin­stellen und die Charaktereigentümlichkeiten, die sich dem Bilde nicht einfügen lassen, als menschliche Schwächen entschuldigen, von denen ja auch die Großen unter den Menschen nicht verschont bleiben. Also: wo Licht ist, da ist auch Schatten.

Dieser Lösung hätte Paulus selbst entschieden widersprochen, da er offenbar Schatten in seinem Wesen nicht zu dulden vermochte. Er gibt zwar die Möglich­keit einer Unvollkommenheit zu, glaubt aber das vorgesteckte Ziel der Vollkom­menheit in Christo erjagen zu können. Wie er sich selber in seiner Nachfolge Christi sieht und zu begreifen versucht, hat er im Brief an die Philipper deutlich gesagt:

"Ich vergesse, was hinter mir liegt, und jage dem vorgesteckten Ziel zu, nach dem Kampfpreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. Wir alle nun, die wir vollkommen sind, wollen so gesinnt sein; - Folgt meinem Beispiel allesamt nach, liebe Brüder, und richtet euren Blick auf die, welche ebenso wan­deln, wie ihr uns zum Vorbild habt" (Philipper 3,13b ff.).

Es ist die Frage, ob sich hinter diesen Worten nicht ein Mensch verbirgt, der auf einem gefährlichen Weg zur Vollkommenheit seinen Schatten zu vernichten sucht.

Da das aber keinem Menschen gelingen kann, liegt es nahe, in dieser ungewöhn­lichen Selbsteinschätzung das Symptom einer seelischen Erkrankung zu sehen. Paulus selbst hat einmal angedeutet, dass er unter einer unheilbaren Krankheit zu leiden hatte, die ihm zeitweise schwer zu schaffen machte. Er spricht von ihr als dem "Pfahl im Fleisch", und im selben Zusammenhang von einem "Satansengel", der ihn mit Fäusten schlagen muss (2. Korinther 12, 7 ff.).

Diese kurzen und dunklen Andeutungen ließen keine sicheren Schlüsse auf die Natur der Erkrankung zu. Da er offenbar von sehr erregbarer Konstitution war, könnte man, wie es schon häufig geschehen ist, vermuten, dass sich seine Krank­heit in epileptoiden Anfällen äußerte. Aber Sicheres ließ sich nicht sagen, man blieb auf Vermutungen angewiesen und begnügte sich damit, der Krankheit den Sinn beizulegen, den Paulus selbst in ihr zu sehen glaubte. Sie soll ihn, so meint er, vor Überheblichkeit bewahren und in einen Zustand menschlicher Schwäche versetzen, damit die Gnade Gottes in ihrer vollen Kraft bei ihm zur Auswirkung kommen kann. So glaubte er, in seiner Krankheitsschwäche das Zeichen einer besonderen Erwählung sehen zu können und behauptet: " ... wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (2. Korinther 12, 10). Es wäre sinnlos, den Vermutungen über die Erkrankung des Paulus noch wei­tere hinzuzufügen, wenn es nicht möglich schiene, das Krankheitsproblem aus einer anderen Sicht, als der bisher üblichen, zu durchleuchten. Diese Möglichkeit ist durch die Psychoanalyse gegeben, insbesondere deshalb, weil in den paulinischen Briefen die Individualität des Verfassers deutlich in Erscheinung tritt. Um ein Verständnis der nachfolgenden Analyse zu erleichtern, soll zuvor darauf hingewiesen werden, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Richtung eine derartige Untersuchung erfolgen wird.

Eine grundlegende Erkenntnis der auf Freud zurückgehenden Lehre vom Un­bewussten besteht darin, dass der Mensch nicht so Herr im eigenen Hause ist, wie er es gerne möchte und wie er es sich bisher vorgestellt hat. Nach psychoanalyti­scher Erfahrung wird unser Denken und Handeln weit stärker von unbewussten Triebkräften gesteuert, als es unserem Selbstbewusstsein lieb sein kann.

Die dem Bewusstsein entzogenen und das Bewusstsein sehr häufig überspielen­den Kräfte könnte man mit dem Golfstrom vergleichen, der unkontrollierbar, aber sehr wirksam auf Klima, Vegetation und somit auf das Leben ganzer Kon­tinente einwirkt. Die Psychoanalyse stellt uns vor die weithin noch unerforsch­ten und wohl niemals voll auszulotenden Bezirke der menschlichen Seele, die sich gemeinhin dem Bewusstsein entziehen.

In diesen Bezirken sind die Triebkräfte zu suchen, die nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung die Bewusstseinsbildung stark beeinflussen. Es handelt sich dabei um Kräfte, die entweder niemals bewusstseinsfähig werden können oder das Schicksal der Verdrängung erfuhren, da sie den sittlichen Vor­stellungen und Anforderungen, die an das "Ich" von der Gesellschaft her ge­stellt werden, nicht entsprechen.

Im Verlauf der Untersuchung werden wir einen Vorgang in seiner Gesetz­mäßigkeit anerkennen müssen, dem alle verdrängten Triebkräfte unterworfen sind. Sie können zwar das Schicksal der Verbannung erfahren, büßen aber dabei nicht ihre Kraft ein und drängen nach einer Abfuhr der Energie. Als Verbannte jedoch können sie nur in einer Maskierung vom Bewusstsein zugelassen werden, gegen die das Ich in seinen sittlichen Vorstellungen nichts einzuwenden hat. Eine Täuschung des Bewusstseins ist damit gelungen, da nunmehr starke und aus der Unterdrückung heraus auch gefährliche Kräfte in mehr oder weniger harmloser Verkleidung ihre Wirksamkeit entfalten dürfen, ohne dass sie in ihrer eigentlichen Natur erkannt werden können. Denn als verdrängte Kräfte haben sie sich der Kontrolle des Bewusstseins entzogen.

Es wird im folgenden die Aufgabe sein, anhand des paulinischen Selbstzeug­nisses unbewusste und verdrängte Kräfte seines Wesens, die zu einer Erkran­kung führen, bzw. seine Erkrankung bedingen konnten, zu erkennen. So könnte die Möglichkeit bestehen, zu einem tieferen Verständnis seines Wesens und sei­ner Gedankenwelt zu kommen.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint