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III.5. Der Kampf gegen die Krankheit

Die Hypothese, Paulus habe unter dem Schicksal der Homosexualität gelitten, ermöglicht es, sein Verhältnis zum mosaischen Gesetz besser zu verstehen.

Es ist anzunehmen, dass seine Triebneigung in einen unversöhnlichen Gegen­satz zu den Vorstellungen geraten musste, in denen er als Glied seines Volkes aufgewachsen war. Mächte der Konvention, der Pharisäerstolz (Philipper 3, 5), und vor allem das Vätergesetz ließen eine Versöhnung mit einer so gearteten Sexualität nicht zu und konnten daher als eine Waffe gegen sie in den Dienst genommen werden.

Im Blick auf seine vorchristliche Existenz kann er mit Stolz sagen, dass er hin­sichtlich der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig erfunden wurde (Philipper 4, 6). Paulus stellte sich also entschlossen auf die Seite des Gesetzes, da ihm das Gesetz als gut und heilig erschien (Römer 7, 12). Je mehr er sich in der strengen Befolgung des Gesetzes übte, um so größere Macht musste es auch über ihn bekommen. Als überzeugter Vertreter des Gesetzes war er vor sich und vor den Menschen zur Treue dem Gesetz gegenüber verpflichtet. Das Ge­setz als die bewahrende Ordnungsmacht wird gegen das drohende Chaos in seinem Innern aufgerufen.

Es setzt nun aber eine verhängnisvolle Entwicklung ein, da der in das Unbe­wusste abgedrängte Trieb nach psychoanalytischer Erfahrung nicht schwächer, sondern stärker wird und nach Entladung drängt.

Die Lage eines mit seinem Triebleben zerfallenen Menschen kann man mit der eines autoritären Staates vergleichen, in dem die Volksmassen durch harte Staatsraison Zielen dienstbar gemacht werden, die ihren Interessen widerspre­chen. Die Staatsgewalt kann zwar den Gehorsam erzwingen, so dass nach außen hin alles in Ordnung zu sein scheint. Unzufriedenheit und Hass gegen den Staat aber werden wachsen und ein Ventil suchen. Da der Staat aber irgend eine Äuße­rung dieses Freiheitswillens nicht zulassen kann, ohne seinen Machtanspruch zu gefährden, wird er bei anwachsendem Druck von unten die Handhabung der Gesetze verschärfen und mit fanatischer Strenge ihre Beachtung erzwingen. So kann einem fanatischen Hass gegen das Gesetz ein ebenso fanatischer Eifer für das Gesetz entsprechen.

Das mag ein Bild für die Lage sein, in der Paulus sich in diesem Stadium seines Lebens befand. In ihm mussten der Hass und der Eifer für das Gesetz einen har­ten Kampf führen, da der in die Verdrängung geratene Geschlechtstrieb das Gesetz nur als seinen Unterdrücker empfinden konnte.

Diese leidenschaftliche Ablehnung des Gesetzes aus der Tiefe wird sich später einmal frei äußern können in einem vom Ich getragenen Kampf gegen das Gesetz, das Paulus nach seiner Bekehrung als das bezeichnen kann, als was er es vor seiner Bekehrung schon empfunden hat, ohne dem Ausdruck geben zu kön­nen, nämlich als "paidagogos", was Luther treffend mit "Zuchtmeister" über­setzt hat:

"Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz in Verwahrung gehalten und waren unter Verschluss auf den Glauben hin, der erst noch offen­bart werden sollte. Somit ist das Gesetz unser Zuchtmeister auf Christus hin geworden, damit wir auf Grund unseres Glaubens gerechtfertigt würden" (Gala­ter 3, 23 f.).

Ein rechtes Erfassen der zwiespältigen Lage des Paulus lässt es auch verständlich erscheinen, warum er anfangs die Christen hassen und als eine, wie er meinte, gefährliche Sekte verfolgen musste. Denn die Christen verstießen ja auch gegen die Autorität des Gesetzes, da sie einen Mann zum Messias erklärt hatten, der als Gesetzesbrecher und Gotteslästerer rechtskräftig zum Tode verurteilt wor­den war. Bultmann nimmt sicher mit Recht an, dass Paulus Christen verfolgt hat, die unter dem Einfluss des Hellenismus dem jüdischen Gesetz zum wenigsten gleich­gültig gegenüberstanden [28].

Diese Leute aber konnten für Paulus zu einer erheblichen Gefahr werden, wenn sie unangefochten das jüdische Gesetz verachten konnten. Die Lage des Paulus kann wiederum mit der eines totalitären Staates verglichen werden, der die frei­heitliche Gesinnung auch nur eines einzelnen nicht dulden kann, weil dies bei den Unterdrückten als Schwäche erkannt und ausgenutzt werden könnte. Paulus darf es sich selber nicht zugeben, dass er in der Tiefe seines Wesens die Christen um die Freiheit vom Gesetz beneidet und muss daher die geheime Sym­pathie für die Christen mit einem noch stärkeren Hass gegen sie beantworten. Es bleibt ihm kein anderer Ausweg, als dass er in seinem Eifer für das Gesetz zu einem Verfolger der jungen Christengemeinden wird. Aber in der Begegnung mit den Christen sollte sich ihm in innerlich auswegloser Lage eine über­raschende Lösung anbieten, die er dann als seine Erlösung empfunden und be­zeichnet hat.

28 RGG, Bd. 4, 2. Aufl., Sp. 1021, und RGG, Bd. 5, 3. Aufl., Sp. 169, G. Bornkamm: Paulus.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint