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VI.1. Martin Luther heute

Es ist wohl kaum eine geschichtliche Gestalt so gegensätzlich beurteilt worden, wie die Martin Luthers. Für die evangelisch-lutherische Konfession bekam er nahezu den Rang eines Heiligen, in den Augen der römisch-katholischen Gläubigen war er der besessene Zerstörer kirchlicher Einheit.

Auf beiden Seiten waren die Vorstellungen von diesem Mann in jahrhundertelanger Fehde zum Klischee geworden. Auch dem Allgemeinbewusstsein innerhalb der Konfession, die sich mit seinem Namen verband, ist dieser Mann nur noch in Bruchstücken seines Lebens und seines Werkes bekannt: Gelübde im Gewitter, 95 Thesen, "Hier stehe ich, ich kann nicht anders ... ", Ein feste Burg, der Kleine Katechismus und Luther, der deutsche Familienvater, das ist, in Stichworten zusammengefasst, so ziemlich alles, was ein evangelisch-lutherischer Christ noch von dem Reformator weiß. Von seinen Werken ist, einschließlich der 95 Thesen, so gut wie nichts mehr bekannt.

In unseren Tagen aber gewinnt die Gestalt Martin Luthers wieder neues Leben. Man konnte den Eindruck haben, als ob der Geist Luthers in das 11. Vatikanische Konzil hineingewirkt habe. Wenn es in den Verhandlungen des Konzils um die Freiheit eines Christenmenschen ging, dann lässt sich dieser revolutionäre Vorstoß im katholischen Raum sicher auch als eine Spätwirkung des Reformationsgeschehens vor 450 Jahren verstehen.

Zum wenigsten in der römisch-katholischen Kirche bahnt sich ein neues Verständnis für ihren bisher ärgsten Feind an. Fraglich aber bleibt, ob auch das Luthertum bereit und fähig sein wird, seine Gründerjahre neu zu durchdenken. Im Unterricht von Schule und Kirche wird anscheinend auch heute noch Schulkindern das Klischee eines Glaubenshelden der Reformation angeboten. Der Versuch einflussreicher Kreise im Luthertum, im Rückgriff auf die Reformationsbekenntnisse wieder den Geist dieser Zeit zu beschwören, bringt die Gefahr einer Idealisierung mit sich, so dass auch ihr führender Geist, Martin Luther, eine jeder ernsthaften Kritik enthobene Idealfigur bleibt.

Der Rückschlag kann dann nicht ausbleiben. Helden sind heute nicht mehr gefragt, Götzen werden brutal gemordet. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die Beurteilung der geschichtlichen Rolle Luthers ohne Zutun der Kirche eine radikal andere wird. Man beginnt, das Idealbild durch das Gegenbild eines negativen Helden abzulösen. Luther ist nun bühnenreif geworden. In dem Schaustück "Martin Luther und Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung" von Dieter Forte [38] begegnet uns ein neuer Luther. Hier wird er uns vorgestellt als ein im Grunde unbedeutender, charakterloser Fürstenknecht, der nur allzu gern bereit war, den Mächtigen seiner Zeit bei der Ausbeutung der Armen und Hilflosen zu Diensten zu stehen. Aufgeblasen rühmt er sich, auf dem Reichstag zu Worms Kaiser und Papst Widerstand geleistet zu haben, obwohl er tatsächlich von den Fürsten zu dieser Standhaftigkeit gezwungen wurde. Aus dem Helden Luther ist der Schmierenkomödiant geworden, der als Junker Jörg auf der Wartburg vor den Soldaten den Auftritt Luthers, den er miterlebt haben will, immer wieder in Heldenpose mimt [39].

Forte behauptet nun, ein gewissenhaftes Quellenstudium sei die Grundlage seiner Darstellung. Fünf Jahre lang habe er sich mit den Problemen um Luther befasst, um die Verflechtungen von Kirche, Politik und Wirtschaft genau zu untersuchen [40].

Wie es um die wissenschaftlich korrekte Arbeitsweise Fortes bestellt ist, soll eine kurze Szene aus diesem Stück verdeutlichen:

Szene Luther-Melanchthon:

Luther: Willst du ein Bier?

Melanchthon: Nein.

Luther: Du musst mehr sündigen, Melanchthon. Gott kann nur einem tüchtigen Säufer vergeben. Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher, das sei Gott gedankt [41].

Also das ist der Luther, ein banaler Spießer, der Gott dafür dankt, dass er fressen und saufen kann.

Forte kann sich tatsächlich in der Regel auf Worte Luthers berufen, sein Verfahren aber besteht darin, dass er Äußerungen, die Luther in anderem Zusammenhang und zu verschiedenen Zeiten gemacht hat, ungenau wiedergibt und zu einem Satz zusammenklebt.

Allerdings lässt sich aus den Werken Luthers mit Sicherheit nicht nachweisen, dass Luther jemals den Melanchthon aufgefordert hat, "mehr zu sündigen". Wenn der Fortesche Luther in derart läppischer Weise das Biertrinken als Sünde bezeichnet, dann deckt das nur auf, dass Forte von Luthers Sündenauffassung überhaupt keine Ahnung hat. Für Luther besteht die Sünde nicht aus Einzeltaten des Menschen, sondern er sieht vielmehr in ihr eine menschliche Fehlhaltung, die das Leben bestimmt. Sünde ist alles, was außerhalb des Glaubens an Christus geschieht. Sie als eine Tugend zu rühmen, ist das größte Verderben [42].

Den Schlusssatz dieses "Lutherwortes" an Melanchthon hat Forte einem Brief Luthers an seine Frau Käthe vom Jahre 1540 entnommen. Am Anfang des Briefes schreibt er: "Euer Gnaden sollen wissen, dass wir hier, Gottlob frisch und gesund sind; fressen, wie die Böhmen (doch nicht sehr), saufen, wie die Deutschen (doch nicht viel), sind aber fröhlich"[43].

Mit diesen Worten wollte Luther, der sich damals in Magdeburg aufhielt, die Sorgen seiner Frau um seinen Gesundheitszustand in humorvoller Weise zerstreuen. Es ist ja bekannt, dass er in den letzten Jahren seines Lebens häufig an Appetitlosigkeit litt.

Wer Zitate in dieser Weise missbraucht, indem er sie aus dem Zusammenhang reißt und verfälscht wiedergibt, um einen Popanz auf die Bühnen stellen zu können, stellt sich kein gutes Zeugnis aus und kann nicht erwarten, ernst genommen zu werden.

Ohne Frage finden sich in Luthers Schriften haarsträubende Äußerungen. Davon wird im folgenden noch ausführlich die Rede sein. Es wäre sicher besser gewesen, manche Schrift, mit der er sich schwerer Depressionen erwehren wollte, wäre nicht geschrieben worden.

Aber auf keinen Fall darf man Worte aus seinen Schriften böswillig dem kritischen Bewusstsein unserer Tage ausliefern, ohne den Zeitgeist, aus dem heraus sie gesprochen oder geschrieben wurden, zu berücksichtigen. Für manche Vorstellungen Luthers haben wir heute nur noch ein Lächeln, manche seiner Ansichten nehmen wir mit Entsetzen zur Kenntnis, wir empfinden sie als roh und gefühlskalt. Wahrscheinlich aber werden seine Zeitgenossen unser Entsetzen nicht geteilt haben, so, wenn Luther z. B. über gebärfähige Ehefrauen sich folgendermaßen auslässt: "Ob sie sich aber auch müde, und zuletzt todtragen, das schadet nicht; lass nur todtragen, sie sind darum da. Es ist besser, kurz gesund, denn lange ungesund leben." [44]

Oder wenn er behauptet, dass "Köpfen und Henken, ob es gleich schrecklich siehet, und weh tut, ein Werk der Barmherzigkeit" sei [45].

Man wird allerdings derartige Äußerungen Luthers nicht nur dem Grobianismus seiner Zeit anlasten können; sie sind zugleich Ausdruck einer Persönlichkeit, die nicht idealisiert werden kann. Mit frisierten Zitaten aber, die Forte ohne Quellenangabe lässt, um sie nach Möglichkeit einer Nachprüfung zu entziehen, treibt man ein böses Spiel mit einer geschichtlichen Persönlichkeit. Einen Mann wie Luther kann man nur in der Ganzheit seiner Person verstehen. Dazu aber bedarf es einer umfassenden Kenntnis der Lebensgeschichte, insbesondere der entscheidenden Jahre der Kindheit.

Merkwürdigerweise erwähnt Forte in seiner Literaturangabe ein Buch, das er offenbar nicht in seinem Stück verwertet hat. Hätte er es getan, wäre er der Gefahr einer billigen Karikierung Luthers entgangen.

Gemeint ist das Buch des amerikanischen Psychoanalytikers Erikson: "Der junge Mann Luther" [46].

Als Psychoanalytiker weiß Erikson, dass der Schlüssel zu einem vollen Verstehen des Menschen in seiner Kindheit liegt. So kann er die absonderlichen und abstoßenden Züge im Charakterbild Martin Luthers überzeugend aus dem Schicksal einer tiefunglücklichen Kindheit herleiten [47]. Es ist ja bekannt, dass Martin in einer abergläubischen, religiös engen häuslichen Atmosphäre brutal zum Gehorsam ohne Widerspruch erzogen wurde. "Wo Kinder als Eigentum behandelt werden", sagt Erikson, "sind...unglückseligen Verbindungen wie Jähzorn und Zwang, Brutalität und Überheblichkeit, Willkür und moralistischer Beweisführung Tür und Tor geöffnet." [48]

Er weist darauf hin, "dass die tödlichste aller Sünden die Verstümmelungen eines kindlichen Geistes ist. Denn solche Verstümmelung verletzt das Lebensprinzip des Vertrauens, ohne das jedes menschliche Tun - und mag es noch so gut und richtig scheinen - in Gefahr ist, durch destruktive Bewusstseinsformen pervertiert zu werden." [49]

Die harte Erziehung seines Vaters, von dem er in den Tischreden sagt, er "stäupte mich einmal so sehr, dass ich ihn floh und ihm gram ward, bis er mich wieder zu sich gewöhnte", hat ohne Zweifel tiefe Spuren im Charakter Luthers hinterlassen [50]. Das konfliktreiche Verhältnis zum Vater, das im folgenden noch eingehend dargestellt wird, durchzieht als ein immer wiederkehrendes Thema die gesamte Lebensgeschichte Martin Luthers. Zu Luthers Zeiten wurde zwar der Stock als ein wichtiges Hilfsmittel der Pädagogik angesehen, Luther selbst berichtet wie beiläufig, dass in der Lateinschule zu Mansfeld wacker gestrichen wurde. Das schließt aber nicht aus, dass phantasievolle und sensible Kinder, zu denen man wohl Martin rechnen darf, auch schon damals eine solche Prügelpädagogik nicht unbeschadet überstehen konnten. Die psychoanalytische Praxis hat zur Genüge Gelegenheit, die Früchte einer solchen Erziehung kennenzulernen.

Ein furchtsamer, im Gewissen verinnerlichter Gehorsam steht dann einer starken Neigung zur Rebellion gegenüber, die aber wie ein drohender Sklavenaufstand durch das an die Vaterautorität gebundene Gewissen unterdrückt wird. Die Schuldgefühle verstärken sich und lassen eine Rebellion nicht zu, so dass man als Sklave einer fremden Autorität nicht werden kann, was man nach Veranlagung und Begabung eigentlich werden sollte.

Erikson hat nun den nahezu verzweifelten und niemals zu Ende geführten Kampf Luthers um seine Selbstfindung einleuchtend in seinem Buch beschrieben. Da ihm Luther aber im Grunde nur ein Modell war, an dem er den Identitätskonflikt des jungen Menschen beschreiben konnte, blieb seine Darstellung einseitig. Sein neutrales Verhältnis zum christlichen Glauben, den er anscheinend als eine Größe der Vergangenheit wertet, hat ihm einen blinden Fleck im Auge verursacht. Trotz eines beachtlichen theologischen Wissens, das allerdings von der historisch-kritischen Forschung und der mit ihr verbundenen neueren Theologie unberührt bleibt[51], bezeichnet er die psychischen Kräfte als den alleinigen Motor in der Entwicklung des jungen Luther. Er kann also nicht sehen, dass der Glaube der römischen Kirche eine vorgegebene Kraft war, die fast ausschließlich das soziale Gefüge, in dem Luther lebte, zu prägen vermochte.

Die Behauptung Eriksons, Luther habe die Furcht vor einem strengen Vater auf Gott übertragen, so dass er nur als ein unbarmherziger Richter von ihm geglaubt werden konnte, ist kurzschlüssig. Luther flieht ja gleichsam aus der Traufe der erdrückenden väterlichen Autorität und gerät dabei in den Regen des göttlichen Zornes. Ohne diesen Regen aber wäre die Traufe nicht denkbar. Es mag sein, dass die Erfahrung eines strengen Vaters die alttestamentliche Gottesvorstellung, nach der ein gnädiger aber auch zugleich zorniger Gott in absoluter Machtfülle willkürlich regiert, mit Übergewicht auf die negative Seite dieser religiösen Vorstellung festlegt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich dabei um einen sekundären psychologischen Prozess handelt. Die vorgegebene Glaubensform, wie sie in der römischen Kirche Gestalt gewann, muss daher als die Primärkraft angesehen werden, die die Konfliktsituation Luthers wesentlich beeinflusste.

Auch in einer psychologischen Untersuchung Martin Luthers und der von ihm ausgelösten Reformation wird diese Kraft, die in der Theologie ihren Ausdruck findet, ihre Berücksichtigung finden müssen.

38 D. Forte, M. Luther und Th. Münzer..., Berlin 1971.

39 a.a.0., S. 67 f.

40 Nachwort: Zur Methode.

41 a.a.0., S. 105.

42 M. Luthers sämtliche Werke, Erlangen 1826, 3, 435 und 45, 31 (laufende Bezeichnung: EA).

43 EA 55, 287.

44 EA 20, 84.

45 5, 114.

46 Erikson, Der junge Mann Luther, München 1958.

47 a.a.0., S. 57 ff.

48 a.a.0., S. 74.

49 a.a.0., S. 75.

50 EA 61, 213.

51 Erikson, a. a. 0., S. 196 ff.


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Last update: 05 Juni 2009 | Impressum—Imprint