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IV.9. Die geschichtliche Wirkung

Mit dem Tode der Reformatoren fand die dogmatische Prägung der evangelischen Konfessionen im wesentlichen ihren Abschluss. Dogmatische Unterschiede innerhab der evangelischen Konfessionen wurden sehr wichtig genommen und in Sorge um die rechte Lehre mit strenger Gewissenhaftigkeit gewahrt. Die Folge war, dass man den Stifter der jeweiligen Konfession zum evangelischen Papst erhob. Die sich durchsetzenden Bezeichnungen "Luthertum" und "Calvinismus" können als Symptom dieser Entwicklung angesehen werden.

Im Schatten und Schutz der Obrigkeit aber war kein Raum mehr für eine evangelische Glaubenshaltung, die das Ordnungsgefüge der nachreformatorischen Zeit in irgendeiner Weise hätte erschüttern können, wie es ja in den ursprünglichen Ansätzen der Theologie Luthers der Fall gewesen war. Mit dem Dahinschwinden der endzeitlichen Erwartung fand man sich allmählich in die Rolle einer von Gott gesetzten Ordnungsmacht, die in Treue zur Obrigkeit über die rechte Lehre und die Wahrung christlicher Sitte zu wachen hatte. Die innere Schwäche des lutherischen Kirchenwesens begünstigte eine Idealisierung des Reformators, auf dessen Lehre man sich in allen Stücken festzulegen suchte. Eine kritische Überprüfung und Weiterbildung der lutherischen Lehre musste daher in Ansätzen stecken bleiben.

Nur in einem sehr wesentlichen Punkt versuchte man die von Luther bestimmte Lehre zu verändern. Luther hatte sich in seiner Schrift "Der servo arbitrio" zur Prädestination bekannt, nach der menschlicher Wille in absoluter Unfreiheit vom Willen Gottes bestimmt wird, so dass auch der böse menschliche Wille letztlich auf göttlichen Ratschluss zurückgeführt werden muss.

In der Konkordienformel suchte man nun dieser Glaubensaussage ihre lähmende Wirkung zu nehmen. Die Vorsehung sei keine Ursache des Bösen (Ep. XI, 3 f.), 50 heißt es in dieser nicht von allen lutherischen Kirchen aufgenommenen Bekenntnisschrift, aber Gott wisse ohne Zweifel schon vor der Zeit der Welt, wer glauben oder nicht glauben werde (SD XI, 54). Es wird zwar zugegeben, dass der eine verstockt und ein anderer, obwohl in gleicher Sünde, wieder bekehrt wird (SD XI, 57), die Ursache der Verstockung liegt jedoch nicht in Gott, sondern in der Sünde des Menschen begründet (SD XI, 78).

Dieses Beispiel einer Lehrentscheidung innerhalb der lutherischen Konfession zeigt, wie hilflos man den Glaubensproblemen, die Luther unerledigt zurückgelassen hatte, gegenüberstand. Und daher begnügte man sich auch in der Regel, sich als orthodoxer Lutheraner auf die reine Lehre zu berufen. Die kurze Blütezeit evangelischer Liederdichtung bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein kann über die zunehmende Verödung und Entkräftung des Lebens in den evangelischen Konfessionen nicht hinwegtäuschen.

Trotz dieser negativen Entwicklung des kirchlichen Lebens im evangelischen Raum hat die durch Luther ausgelöste Reformation Kräfte freigesetzt, die in den folgenden Jahrhunderten die geistige und soziale Struktur Europas revolutionär veränderten. Es war Melanchthon, der die Voraussetzungen für eine derartige Umwandlung durch intensive Förderung eines konfessionell gebundenen Schul- und Hochschulwesens schuf. Diese Schulen sollten vor allem der Kirche einen wissenschaftlich gebildeten Predigerstand sichern, wurden aber auch nach dem Willen Melanchthons Stätten humanistischer Bildung, in denen die Naturwissenschaften zum ersten Mal in einer deutschen Schule als ordentliche Lehrfächer anerkannt wurden.

In diesen Schulen wurde eine der stärksten Kräfte, die Luther bewegt haben und zur Auslösung des Reformationsgeschehens führten, wieder lebendig. Der von Luther eingeleitete Abbau des Patriarchats wurde von den Schülern der protestantischen Schulen in sehr eigenständiger und wirksamer Weise wieder aufgenommen, und zwar zweihundert Jahre nach dem Tode des Reformators. Luther hatte in seinem leidenschaftlichen Kampf gegen das Papsttum der patriarchalisch geordneten Gesellschaft seiner Zeit einen schweren Schlag versetzt, indem er die höchste Instanz dieser Gesellschaftsordnung als eine satanische Macht abwertete. Das Patriarchat aber konnte er nicht ersetzen, es blieb eine unentbehrliche Ordnungsmacht. Um ein Chaos zu vermeiden, sah er sich dann auch gezwungen, die durch sein Wirken entstandene Kirche der "Endzeit" der Obrigkeit zu unterstellen, der er nun die dem Papst abgesprochenen Vaterrechte übertrug.

So weist er im Großen Katechismus in der Auslegung des 4. Gebotes darauf hin, dass die Obrigkeit "in den Vaterstand gehöret", und zwar im weitesten Sinne. "Denn hier ist nicht ein einzelner Vater, sondern vielmal Vater, so viel er Landsässen, Bürger und Untertanen hat. Denn Gott gibt und erhält uns durch sie, als durch unsere Eltern, Nahrung, Haus und Hof, Schutz und Sicherheit. Darum weil sie solchen Namen ... führen, sind wir auch schuldig, dass wir sie ehren und groß achten für den teuersten Schatz und köstlichste Kleinod auf Erden." [148]

Dieser Versuch einer Aufwertung des Vaterstandes aber konnte auf die Dauer keinen Erfolg haben, da er ihn ja in seinem höchsten Vertreter als einen von Gott geordneten Stand vor den Augen der Welt nachhaltig in Frage gestellt hatte. Ein fortschreitender Abbau der väterlichen Autorität, insbesondere soweit sie sich auf die Obrigkeit und eine mit ihr festverbundene Kirche erstreckte, musste sich daher im Laufe der Zeit zwangsläufig ergeben.

Diese zunächst unterschwellig verlaufende Entwicklung tritt sichtbar in Erscheinung, als um die Mitte des 18. Jahrhunderts die geistige Elite der protestantischen Fürsten- und Stiftsschulen der väterlichen Autorität von Staat und Kirche mehr oder weniger verhüllt den Abschied geben, sich der religiösen Bevormundung entziehen und eine literarische und philosophische Wirksamkeit entfalten, die das geistige Klima bis in unsere Zeit hinein bestimmt hat.

Die Schüler, die sich in der Geistesgeschichte einen so großen Namen gemacht haben, entstammten fast ohne Ausnahme protestantischen Elternhäusern, viele von ihnen waren Söhne lutherischer Prediger, von ihren Vätern oder auch aus eigenem Antrieb zum Studium der lutherischen Theologie bestimmt. So studierte z. B. auch Hegel, einer der Väter des Marxismus, als Zögling des Tübinger Stiftes Theologie und Philosophie.

Die geistige Bewegung aber, die dem Protestantismus entwuchs, sollte dann auch auf die lutherische Theologie rückwirkend großen Einfluss gewinnen. Mit der Tübinger historisch-kritischen Schule übernahm eine theologische Richtung die Führung, die christliche Glaubensinhalte mit den Methoden wissenschaftlicher Wahrheitsfindung überprüfte. Das aber führte zur Kritik an Glaubensaussagen, die in ihrer Bindung an das jüdisch-archaische Erbe einer sich auf rationaler Ebene bewegenden Forschung unglaubwürdig erschienen. Die zunehmende Verunsicherung des theologischen Denkens wird überdeckt durch einen selbstsicheren Kulturoptimismus. Von der Philosophie her weht ein scharfer Wind. Der ehemalige Theologe Ludwig Feuerbach und der Pastorensohn Friedrich Nietzsche sparen nicht mit ätzender Kritik an einer Theologie und einer Kirche, die sich als unerschütterliche Säule der bürgerlichen Gesellschaft versteht, bis dann der Glaube an ein schönes, harmonisch verchristlichtes Leben in der Sackgasse des verlorenen ersten Weltkrieges endete.

148 EA 21, 60 f.


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Last update: 05 Juni 2009 | Impressum—Imprint