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V. Berechtigung und Grenzen der Kritik Freuds

Der stärkste Einwand, den Freud gegen die Religion vorzubringen hat, liegt in der Behauptung, dass religiöse Überzeugungen auf Illusionen beruhen, hinter denen die "stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit" stehen. Die Kraft der Religion rührt von der Stärke dieser Wünsche her. "Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz - Schutz durch Liebe - erweckt." [l49]

Aber Freud räumt ein, dass nicht allein Wunscherfüllungen Ziel einer religiösen Bindung sind. Sie hat geschichtlichen Grund. Zum wenigsten im jüdisch-christlichen Glauben ist der Glaube an den mächtigen Vater der Urzeit gebunden, den man ob seiner Macht verehrte, aber auch hasste und daher in den Tod schickte. Schuldgefühl und Hilflosigkeit machten den Ermordeten dann zum Jahwe, dem man sich in Reue unterwarf, und auf dessen Hilfe man hoffte. In seiner Kraft würde der Messias kommen, um das jüdische Volk zu politischer Größe zu führen [150].

Man wird doch wohl nicht leugnen können, dass der Jahwe des Alten Testamentes deutlich die Züge eines mächtigen Vaters der Urzeit verrät. Auch Jesus tritt häufig im Neuen Testament als Vertreter einer furchterregenden Macht in Erscheinung.

Psychoanalytische Kritik, aber auch die Literarkritik Emanuel Hirschs vermitteln uns ein anderes Bild. Es ist das Gegenbild eines jüdischen Messias, der die Hoffnungen eines ehrgeizigen Volkes erfüllen sollte. Sein Tod inmitten von Verbrechern bedeutete das Ende wunschbedingter messianischer Hoffnungen (siehe Seite 31ff.).

Man brauchte sich sicher nicht auf das Beispiel des Gleichnisses von den beiden verlorenen Söhnen zu beschränken, um zu zeigen, dass Jesus die ursprüngliche Vaterreligion in den Glauben an eine Partnerschaft Gottes mit den Menschen verwandelt hat. Der Vatername bleibt, aber es ist ein Vater, der sein Kind in die mündige Freiheit entlassen hat. Jesus war Mensch, und sein Schicksal zeigt die Situation des Menschen in dieser Welt auf. Die Kreuzessituation dürfte den urmenschlichen Wunsch nach göttlichem Schutz ein für allemal erledigt haben. Die Schrecken, denen Menschen in unserer Welt immer wieder hilflos ausgeliefert werden, sei es, dass man sie in Konzentrationslagern quält und ermordet oder mit Napalm verbrennt, zwingen uns zu der für manche sicher bitteren Erkenntnis, dass wir in dieser Welt so leben müssen, als ob es Gott nicht gäbe. Gott mutet es uns eben zu, unsere menschlichen Angelegenheiten selber verantwortlich zu regeln. Das gehört zu unserer Freiheit, die allein dem Menschengeschöpf zusteht. Schlimme Erfahrungen werden uns wohl dazu zwingen, ihre Handhabung in Zukunft besser zu erlernen. Es ist unsere Schuld, wenn wir aus unsrem größten Kapital eine belastende Hypothek gemacht haben. Strafendes oder hilfreiches Eingreifen einer höheren Macht würde zwar unsere Schuldenlast verringern, aber unser Kapital hätten wir dann auch verspielt.

Aber der illusionäre Charakter der Religion erweist sich nach Ansicht Freuds auch darin, dass sie unerfüllbare Forderungen an den Menschen stellt. So wird im christlichen Glauben gefordert, den Nächsten so zu lieben, wie sich selbst.

"Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen?", wendet Freud ein. "Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? - Wenn ich einen anderen liebe, muss er es auf irgend eine Art verdienen ... Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, dass ich in ihm mich selbst lieben kann. - Aber wenn er mir fremd ist, und mich ... durch keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. - Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert ... , er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Hass. Er scheint nicht die mindeste Liebe für mich zu haben ... , macht sich nichts daraus, mich zu verspotten ..., seine Macht an mir zu zeigen ... Ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: Liebe deinen Nächsten, wie dein Nächster dich liebt, dann würde ich nicht widersprechen. Es gibt noch ein zweites Gebot, das mir noch unfassbarer scheint und noch heftigeres Sträuben in mir entfesselt. Es heißt: Liebe deine Feinde." [151]

Als Jude hat Freud unter dem Antisemitismus im katholischen Österreich zeit seines Lebens gelitten. Schon als Junge empörte es ihn, dass ein Nichtjude seinem Vater die neue Pelzmütze vom Kopf schlug und ihn anschreit: "Jud, herunter vom Trottoir!" Noch tiefer empörte es ihn allerdings, dass sein Vater diese Demütigung widerstandslos hingenommen hatte [152].

Freud hat also schon sehr früh erfahren, dass dem Liebesgebot in der christlichen Welt sehr enge Grenzen gesetzt sind. Er meint auch zu wissen, warum der Mensch sich mit der Nächstenliebe so schwer tut. Es ist der grausame Aggressionstrieb, der, wenn seelische Gegenkräfte lahmgelegt werden, den Menschen zu einer wilden Bestie machen kann, die auch die eigene Art nicht schont. "Wer die Greuel der Völkerwanderung ... , der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkrieges in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen." [153]

Die Argumente Freuds haben Gewicht, sie stellen der christlichen Glaubenspraxis kein gutes Zeugnis aus. Und es ist schon seltsam, dass gerade Freud die scheinbar absurde Weisung der christlichen Lehre konsequent befolgte, ohne es zu wissen.

Ihm wurde viel Feindseligkeit entgegengebracht, die verleumderisch und bösartig genannt werden kann. Aber er hat sich niemals auf Polemik eingelassen und versucht, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er wusste, dass es sinnlos war, zurückzuschlagen, weil er das Motiv, das hinter diesen Angriffen stand, kannte. Die Feindschaft war im Grunde eine Notwehraktion des Bedrohten. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung musste es "zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von Spott und Hohn, zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften der Logik und des guten Geschmacks in der Polemik" kommen [154]. Denn seine Gegner glaubten die Kultur aufs schwerste durch die Trieblehre gefährdet; denn "die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschränkung unserer Triebe. Unter den so dienstbar gemachten Triebkomponenten ragen die der Sexualtriebe - im engeren Sinne - durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß dies und ... will nicht, dass davon gesprochen wird." [155]

Das Verstehen also enthob Freud dem Zwang, den Gegner mit der gleichen Waffe zu bekämpfen, so dass Aggressionen auf beiden Seiten der Gegner sich nicht hochschaukeln und zu einer verheerenden Wirkung kommen können. Genau das hat Jesus im Auge, wenn er empfiehlt, den Feind zu lieben. Liebe in diesem Sinne ist nicht an Sympathie oder Antipathie gebunden. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Jesus eine derartige Liebe für seine Henker empfunden hat. Man könnte die Feindesliebe als eine vom Eros emanzipierte Liebe bezeichnen. Liebe im $inne Jesu heißt im griechischen Neuen Testament "agape", ein Wort, das in der deutschen Sprache sinngemäß als "Bereitschaft, den anderen anzunehmen" wiedergegeben werden kann. Sicher wird man gefährliche Angriffe, notfalls mit Gewalt, abweisen müssen, aber nicht auf der Aggressionsebene, die mir der Gegner gerne vorschreiben möchte. Auch die agape kann nicht zur Wirkung kommen, solange der Gegner diese agape gar nicht annehmen will. So aber wird die Tür zum anderen nicht zugeschlagen, es erfolgt keine Eskalation der Gewalt in einer sich steigernden Aggression, sondern es bleibt die Möglichkeit, den Feind anzunehmen, wenn ihm seine dauernd ins Leere stoßende Aggression das Unrecht und die Sinnlosigkeit seiner Feindschaft bewusst gemacht hat. Freud wird sicherlich bereit gewesen sein, einer solchen Liebe, die auf eine Demütigung des unterlegenen Gegners verzichten kann, zuzustimmen.

Auch zur Nächstenliebe im Sinne Jesu hat Freud ein enges Verhältnis gehabt. Denn in der von ihm entwickelten Analysentechnik gilt es als selbstverständlich, den Patienten, der sich einer Analyse unterzieht, als gleichwertigen Partner anzuerkennen. Der Analysand kann daher nie Objekt einer Behandlung werden, in der psychische Schwierigkeiten wie ein Magengeschwür operativ entfernt werden, sondern er hat die Möglichkeit, Einfälle, die sich seinem Bewusstsein anbieten, dem Analytiker anzuvertrauen. Es gehört schon ein großes Maß an Vertrauen dazu, einem anderen Menschen peinliche seelische Regungen preiszugeben. Das kann nur möglich sein, wenn der Patient sich in einer Weise angenommen weiß, die einen Missbrauch seiner Mitteilungen ausschließt. Der Analytiker vermeidet es daher auch, auf Grund seines überlegenen Wissens die Partnerrolle mit der eines Lehrers zu vertauschen. Er kann nur Begleiter eines seelischen Erhellungsprozesses sein, indem er das ihm angebotene seelische Material ohne moralische Wertung aufnimmt und, wenn möglich, in Beziehung zur Lebensgeschichte des Patienten setzt. Ihm aber bleibt es überlassen, die so gewonnenen Einsichten als ein Korrektiv seines seelischen Verhaltens zu verwerten.

Versucht man nun, diese Grundregel der Freudschen Analysentechnik auf eine Formel zu bringen, könnte sie folgendermaßen lauten: "Versuche niemals, einen Menschen, der deiner Hilfe bedarf, in Abhängigkeit zu bringen, indem du Macht über ihn gewinnst. Bring ihm die Achtung entgegen, die du für dich selber beanspruchst. Sei ihm ein Partner, der, ohne dir verpflichtet zu sein, einen eigenen Weg gehen kann. Diese Formel dürfte eine sinngerechte Ausdeutung der biblischen Weisung im Sinne Jesu sein, seinen Nächsten so zu lieben, d. h. anzunehmen, wie man selbst angenommen werden möchte.

Die Kirchen haben allerdings diese Anweisung Jesu häufig zu einer Idealforderung erhoben, die keiner auch nur versuchsweise seiner Lebenspraxis einfügen konnte. Sie wurde als eine "selbstlose" Liebe propagiert, die Jesus überhaupt nicht gefordert hat. Nur Neurotiker können sich ihrer bedienen, um andere Menschen in Dankbarkeitshaltung von sich abhängig zu machen.

Es dürfte eine wichtige Aufgabe sein, Feindes- und Nächstenliebe in der von der Psychoanalyse als sinnvoll erwiesenen Weise in der Gesellschaft einzuüben. Die Pädagogik wäre dafür ein geeignetes Feld. Eine Erziehung, die ihre Aufgabe darin sieht, das Kind vornehmlich zu einem funktionstüchtigen Rädchen der Verwaltung, der Wirtschaft oder der Technik einzuschleifen, missbraucht ihren Erziehungsauftrag. Sie trägt dazu bei, dass sich in einer leistungsbesessenen Gesellschaft die unbewussten Aggressionstendenzen gegen eben diese Gesellschaft gefährlich steigern können.

Eine Erziehung aber, die dem jungen Menschen hilft, seine Begabung frei zu entfalten, verwirklicht eine Nächstenliebe, die der menschlichen Aggressionsneigung entgegenzuwirken vermag.

Schon im Jahre 1929 bezeichnete Freud es als eine Schicksalsfrage der Menschheit, ob es ihr gelingen wird, des menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebes Herr zu werden. "Die Menschen", so schreibt er, "haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden "himmlischen Mächte", der ewige Eros, eine Anstregnung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen ?" [156]

Obwohl diese Worte Freuds durch das Ereignis des zweiten Weltkrieges leider einen nahezu prophetischen Rang bekommen haben, geben sie Anlass zur Kritik an einer auch in Analytikerkreisen sehr umstrittenen Hypothese, die Freud schon 1920 in seiner Schrift "Jenseits des Lustprinzips" aufstellte.

Den "unsterblichen Gegner" des Eros, der für die Lebenstriebe steht, glaubte er in einem Todestrieb entdeckt zu haben, der so unauffällig und geräuschlos in der menschlichen Psyche zur Wirkung kommt, dass er nur spekulativ erfasst werden kann. Den Kern dieser, wie er meinte, wissenschaftlichen Spekulation beschreibt Freud mit einer für ihn ungewöhnlichen Naivität: "Irgend einmal wurde in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. - Die damals entstandene Spannung in dem vorher unbelebten Stoff trachtete danach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren." Die Schlussfolgerung lautet: "Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: das Leblose war früher da als das Lebende." [157]

Man darf wohl sagen, dass Freud hier den Anspruch wissenschaftlichen Erkennens auf ein Gebiet vorgetragen hat, auf dem sichere Erkenntnisse nicht mehr möglich sind. Glaubte Freud im Ernst, dass die "noch unvorstellbare Krafteinwirkung einmal wissenschaftlichem Erkennen zugänglich gemacht werden könnte? Die Bibel stellt denselben Schicksalsverhalt sehr einfach fest mit den Worten: "Alles Fleisch ist wie Gras ... " (Jesaja 40, 6).

Die Überschätzung rationaler Erkenntnismöglichkeit muss daher in Spekulationen einmünden, die Glaubenscharakter haben. Freud muss nun in den "Hafen Schopenhauers" einlaufen und den Tod als "das eigentliche Resultat" und insofern als den Zweck des Lebens ansehen. [158]

Hier verfängt sich die Arbeit Freuds in einem Nihilismus, dessen blanker Hoffnungslosigkeit sich der Mensch gar nicht zu stellen vermag und den Freud für sich selbst auch in Wirklichkeit nicht durchgehalten hat.

Das zeigt sich schon in seiner Erwartung, dass der ewige Eros eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner (dem Todestrieb) zu behaupten. Man fragt sich, warum eigentlich, wenn Zweck und Ziel des Lebens der Tod ist? Es scheint auch durchaus nicht so zu sein, dass Freud für sich persönlich das Nichts, die Ergebnislosigkeit seines Lebens erwartet hat. Wenn das Nichts Endergebnis des Lebens ist, kann kein Mensch mehr als ein Nichts erreichen. Er aber war sich durchaus seiner Bedeutung als Entdecker der Psychoanalyse bewusst, diese Entdeckung sollte mit seinem Namen verbunden bleiben. Sicher, er kann seine Person zurücknehmen. So schreibt er an Ernest Jones: "Ich werde bald wegfallen, viel später erst hoffentlich die anderen, aber das Werk muss fortgesetzt werden, gegen dessen Größe wir alle mitsammen klein sind" [159]. Diese resignierten Äußerungen aus dem Jahre 1925, geschrieben unter dem Eindruck von Karl Abrahams Tod und dem Fortschreiten seines eigenen Krebsleidens, stehen dann wieder im Gegensatz zu einem Brief aus dem Jahre 1929, in dem er den in seiner Treue schwankenden Ferenczi beschwört, sein Paladin und Großwesir zu bleiben [160].

Der Widerspruch zwischen Theorie der Wissenschaft und der Lebenspraxis Freuds ist nicht zu verkennen. Mit ganzer Kraft hat er sich dagegen gewehrt, einen religiösen Glauben für sich als verbindlich anzuerkennen. Bei den Vertretern dieser Disziplin stieß ihn vor allem die Neigung zu einer intellektfeindlichen Flucht in illusionäre und wohl auch häufig unredliche Überzeugungen ab. Aber er konnte am Tod nicht vorbeisehen, da das Todesgeschehen das psychische Verhalten des Menschen tiefgreifend beeinflusst. Daher bemühte er sich, dieses Geschehen seiner Trieblehre einzufügen, ohne in die Nähe einer religiösen Deutung zu geraten.

Er übersah aber dabei, dass der Tod nicht als eine menschliche Triebkraft isoliert werden kann, da Sterben kosmisches Gesetz ist. Alles Leben endet im Tod, alles Geformte in der Auflösung der Form. Tod ist das Zeichen der Endlichkeit. Psychologische Wirkungen aber zeitigt dieses Gesetz nur im Menschen. Denn als einziges Wesen der belebten und unbelebten Materie verfügt der Mensch über ein Bewusstsein, das um das Schicksal zum Tode weiß. Erst unter dieser Voraussetzung kann das Todesmuss als ein Triebgeschehen verkannt werden, da der Wille zum Leben (Lebenstrieb ) sich gegen dieses Schicksal bis zum äußersten zu wehren sucht. Ein mächtiger Trieb zum Leben scheint sich also einem übermächtigen Trieb zum Tode zu stellen in aussichtslosem Kampf. In Wirklichkeit ist aber dieser übermächtige Trieb ein über den Menschen hinausgreifendes kosmisches Gesetz, das sich wissenschaftlichem Erkennen entzieht und vom Menschen her nur in illusionären religiösen Überzeugungen oder in einer ebenso illusionären Verdrängung aus dem Bewusstsein verkraftet werden kann.

Es wäre zu fragen, ob nicht der Lebenswille im Menschen die sexuellen Kräfte an Triebstärke weit übertrifft. Der Lebenstrieb wäre es dann, der in Zerstörung und Selbstzerstörung umschlägt, wenn er im Kampf um Leben in die Sackgasse des Todes gerät.

Welch eine verlockende Möglichkeit hat der Mensch, sich selbst zu bestätigen, wenn er den Tod in seinen Dienst stellen kann? Den Massenmord in den Konzentrationslagern der Hitlerzeit kann wohl nur der verstehen, der den Machtrausch nachempfinden kann, den das Herrenturn über Leben und Tod anderer Menschen vermittelt. Wenn Freud glaubt, feststellen zu können, dass der Todestrieb im Dienste des Eros oder anders gesagt, der Selbsterhaltung nach außen gewandt werden kann, um auf diese Weise andere Lebewesen anstatt sein eigenes Selbst zu vernichten [161], dann sagt er im Rahmen seiner Theorie das gleiche, nur dass auf diese Weise auf rationaler Ebene eine schwache Spiegelung der Wirklichkeit möglich ist.

Auch beim Selbstmordgeschehen könnte es in manchen Fällen eine Rolle spielen, dass der Selbstmörder sich dem Nichts zu verweigern sucht, indem er den Tod kommandiert. Wenn Freud recht hat, dass in jedem Selbstmord der Todeswunsch gegen einen anderen Menschen zur Tat treibt [162], dann kann man in dieser Todesart nicht nur eine Selbstbestrafung, sondern auch eine moralische Leistung sehen, die einer Wertbestätigung dienen möchte.

Selbstverständlich kann sich eine Gesellschaft diese Art von Selbstbestätigung nicht leisten. Schutzbedürftigkeit und der Wunsch, leben zu dürfen, haben ohne Frage zur Religionsbildung geführt. Während viele Völker in ihren Glaubensgemeinschaften nur über eine Vorstellungskraft verfügten, die ihnen nach dem Tode eine Schattenexistenz unter der Obhut der Götter sicherte, hat das jüdische Volk einen Glauben entwickelt, der das Totenreich hinter sich ließ und das Reich Gottes auf Erden ohne Leid, Friedlosigkeit und Tod in Aussicht stellte. Dieser Glaube war eine Illusion, aber von einer geschichtsbildenden Kraft, so dass er für dieses Volk eine Realität war. Wir stehen vor der seltsamen Tatsache, dass ein illusionärer Glaube den Geschichtsverlauf in diesem Volke bestimmt hat. Fragt man sich nun, warum das jüdische Volk trotz aller schweren Enttäuschungen an der Wunschvorstellung festhalten konnte, Israel würde unter Führung eines von Jahwe gesandten Messias Kristallisationspunkt eines weltumspannenden, politisch verstandenen Gottesreiches werden, so wird man zur Erklärung dieses Phänomens die Hypothese Freuds von dem geschichtlichen Kern der israelitisch-jüdischen Religion nicht außer acht lassen können. Den geschichtlichen Kern glaubte Freud ja darin zu erkennen, dass der ermordete Vater seine Autorität auf unanfechtbarer Ebene wieder aufrichten konnte (siehe Seite 18ff.).

Das aus der Untat erwachsene Schuldgefühl schuf dann eine dauerhafte, nicht mehr lösbare Bindung an diese Gottheit. Die immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf die machtvolle Hilfe ihres Gottes mobilisierte in den Geschichtskatastrophen, die über "das Gottesvolk" hereinbrachen, das Schuldgefühl und nicht etwa den Zweifel an der Macht und der Gerechtigkeit ihres Gottes. Die Prophetenpredigt sorgte dann dafür, dass aus dem Schuldbewusstsein die überstrengen Regeln der Priesterreligion hervorgehen konnten [163].

Folgt man der Hypothese Freuds, wird man nicht daran vorbeisehen können, dass die entscheidende Tat Jesu in engem Zusammenhang mit dem so gedeuteten geschichtlichen Kern der jüdischen Religion steht.

Nach dem Bericht der drei ersten Evangelien war die letzte Mahlzeit Jesu ein Passahmahl, in dem Jesus sich selbst als das neue Passahopfer bezeichnet. Mit einiger Sicherheit wird man annehmen dürfen, dass man es hier mit einer späteren, ungeschichtlichen Ausgestaltung der Leidensgeschichte zu tun hat. Unbewusst hat man so den Tod Jesu mit dem Opfer der ersten Passahfeier in Beziehung gesetzt und damit das geheime Wissen verraten, dass auch das erste Passahopfer die Gestalt eines Menschen hatte.

Das erste Passahopfer in Gestalt des Vaters der Urzeit wird meuchlings in den Tod geschickt und nimmt als Gott dann später seine rebellischen Söhne in eine Schuldhaft, die auch der christliche Glaube als Erbe jüdischer Gläubigkeit übernehmen musste.

Der Tod Jesu aber kann nicht als ein zweites Passahopfer angesehen werden, der nach Freuds Ansicht den Mord am Urvater sühnen sollte (siehe Seite 52ff.), sondern war ein von Jesus als notwendig anerkanntes Sebstopfer, das den Menschen aus seiner verhängnisvollen religiösen Schuldabhängigkeit herauszuholen vermag. Die Deutung seines Sterbens in diesem Sinne ist im Vorhergehenden schon dargestellt worden (siehe Seite 31 ff.).

Der Glaube, der dem Menschen in der Bindung an Jesus angeboten wird, zerstört zwei religiöse Wunschträume der Menschheit.

1. Es gibt keinen Gott, der schützend, rächend oder strafend in das Weltgeschehen eingreift. In einem neuen Sinn behält das Wort Galaterbrief 6, 7b: "was der Mensch sät, das wird er ernten", seine Gültigkeit. Sein Glück oder sein Unglück hängen ab vom rechten Gebrauch oder vom Missbrauch seiner Freiheit.

2. Der Tod wird von Jesus als ein kosmisches Gesetz bestätigt, dem sich der Mensch nicht entziehen kann. Nur seine Bedeutung wandelt sich. Er ist nicht mehr die Macht, die das Leben in Schatten, Verdammnis oder in das Nichts verwandelt, sondern der Punkt, an dem neues Leben in Erscheinung treten wird, das allerdings unserem Vorstellungsvermögen genauso unzugänglich bleibt wie der Tod.

Es steht dem Menschen frei, diesen Glauben als Illusion abzutun. Die größte Illusion aber leistet sfch der Mensch auf jeden Fall in der weitverbreiteten Meinung, er könne ohne Glauben in dieser Welt leben. Er hat nur die Wahl. Es steht ihm frei, sich als ein zukünftiges Nichts anzusehen, genauso, wie er an ein Leben glauben kann, das über die Grenze geschöpflichen Lebens hinausgeht. Der jeweilige Glaube aber wird auf die Gestaltung des Lebens, in dem er sich in dieser Welt nun einmal vorfindet, einen bedeutenden Einfluss haben.

149 Freud, Ges. W. XIV, S. 352.

150 Ges. W. XIV, S. 365 f., und XVI, S. 236 ff.

151 Ges. W. XIV, s. 48Sf.

152 Ges. W. lI/IlI, S. 203.

153 Ges. W. XIV, S. 471.

154 a.a.0., S. 104.

155 a.a.O. S. 106.

156 a.a.0., 5. 506.

157 Ges. W. VIII, 5. 40.

158 a.a.0., 5. 53.

159 E. Jones, S. Freud, Leben und Werk, S. Fischer, 1969, S. 593.

160 a.a.0., S. 621.

161 Ges. W. XIV, 5. 478.

162 Ges. W. IX, 5. 185 (Anm.).

163 Ges. W. XIV, 5. 486.


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Last update: 05 June 2009 | Impressum—Imprint